Hingeguckt #004 – Bloß nicht im Oktober!

Meine Oma konstatierte gerne, wenn die Rede auf Frankfurt kam, dass dort die Dividenderiche zuhause seien. Als Kind erschließt sich einem der tiefere Sinn einer solchen Äußerung naturgemäß nicht und so war ich davon ausgegangen, dass es sich bei diesen Geschöpfen um eine besondere Spezies handelt, wie man sie beispielsweise im Zoo bestaunen kann. Heute weiß ich, dass diese Spezies ihr Zuhause in einem Gebäude namens Börse hatte, mittlerweile aber schon längst ausgewildert worden ist und oft über viele Jahre unauffällig und unerkannt mitten unter uns lebt, und das nicht nur in Frankfurt. Besagtes Börsengebäude ziert noch immer den Frankfurter Börsenplatz und bietet in seinem Inneren den passenden Rahmen für die allabendlich stattfindende Börsenfolklore in den Nachrichtensendungen. Eine Börse gibt es in Frankfurt schon seit dem späten 16. Jahrhundert, aber erst das 19. Jahrhundert war der Meinung, diesem Wettbüro auf Sieg und Platz im Rennen um den wirtschaftlichen Erfolg, einen architektonischen Rahmen geben zu müssen, der es den Tempeln der Kunst- und Kulturpflege gleichstellt. Also entschied man sich, aus den 39 Einsendungen eines europäischen Architektenwettbewerbs den Entwurf der beiden Frankfurter Architekten Heinrich Burnitz und Oskar Sommer mit dem Namen „Pax perpetua“ als besten zu küren und ab 1874 Wirklichkeit werden zu lassen. Lobend merkte das Preisgericht an, dass der Entwurf durch „monumentale Würde“ besteche, und dass „die Schmiegsamkeit der Renaissance für die Lösung der verschiedenartigsten Probleme die größten Vortheile“ biete. Nun zahlte sich aus, dass Herr Burnitz häufig in Italien Urlaub gemacht und sich Palladios Palazzo Communale in Vicenza gut gemerkt hatte. Dieser steckt  unverkennbar in seiner Frankfurter Börse, was gut beim italienaffinen Bildungsbürgertum ankam. Und noch mehr freute sich dieses Bürgertum, dass die vereinbarte Bauzeit von viereinhalb Jahren ebenso exakt eingehalten worden war wie auch die vereinbarte Bausumme von 1,636 Millionen Gulden nicht überschritten worden ist.   


Damit konnten sich die Frankfurter ab 1879 am attraktivste Börsengebäude des Deutschen Reiches erfreuen und die Stunden ihrer Freizeit sinnvoll der Enträtselung des üppigen Skulpturenschmucks widmen. So sind dort die Erdteile durch charaktervolle Personifikationen ebenso vertreten wie diverse antike Gottheiten, deren Anwesenheit einen vermeintlichen Zweckbau in einen Olymp des Handels verwandelt. Absolut unerlässlich für einen halbwegs geregelten Börsenbetrieb aber sind natürlich Putten. Das 19. Jahrhundert wusste das und sparte daher an der Fassade nicht an den kleinen Nackedeis. Es wird daher wohl ein ewiges Rätsel bleiben, wie heutzutage ein völlig puttenfreier elektronischer Handel überhaupt funktionieren kann. Wenn das mal auf Dauer gutgeht! Und so hat Frankfurts Börse nach dem „man-kann-nie-wissen-Prinzip“ gehandelt und seinen Puttenbestand einem behutsamen Update unterzogen. Weltoffenheit und Innovationsfreude heißen die Wanderstäbe für den Marsch durch den globalen Handel! Und so zieren jetzt die altehrwürdige Fassade neben vielen anderen Allegorien endlich auch eine Allegorie der Akkupunktur! Unser Dank gilt der Börse und nicht zuletzt dem überaus engagierten Puttenbauftragten beim zuständigen Regierungspräsidium in Darmstadt.
Aber auch im Angesicht dieser sinnigen Nachrüstung gilt für Anleger weiterhin: „Oktober. Einer der besonders gefährlichen Monate für Börsenspekulationen. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.“
Diesen wertvollen Tipp entnahmen wir Mark Twains „Pudd’nhead Wilson. Those Extraordinary Twins“.    

Bildquellen:

Farbfoto: ® Thomas Huth

SW-Foto: ® Postkartenarchiv Thomas Huth