Hingeguckt #005 – Römisches statt Reeperbahn
Hafenviertel waren früher in Fragen der allgemeinen Sittsamkeit nicht gerade für ihren hohen moralischen Standard bekannt. Man denke nur an Hamburgs berühmte Reeperbahn und male sich aus, wie es da wohl „nachts um halb eins“ mit oder ohne Mädel zugegangen sein mag. Da wird bei so manchem Zeitgenossen die Wirksamkeit des vom Katechismus Vermittelten rasch an seine Grenzen gestoßen sein und es wurden die üblichen Etablissements zum Ausgleich einer gewissen hormonellen Unwucht aufgesucht.
Um solcherlei zügelloses Treiben gar nicht erst aufkommen zu lassen, entschloss man sich beim Bau des Aschaffenburger Mainhafens – „Schwergut – eine unsere leichtesten Übungen“ – mit der Vollendung der Hafenbecken zugleich den Bau einer großen Kirche im kleinen Stadtteil Leider zu beginnen. Führe uns nicht in Versuchung sondern in den Gottesdienst. Am 14. November 1921 eröffnete ein erster Spatenstich die Bauarbeiten an der überaus stattlichen Laurentiuskirche, die glücklich am 4. August 1923 eingeweiht werden konnte. Zwischenzeitlich waren die Baukosten aus dem Ruder gelaufen. Musste man zu Beginn der Bauarbeiten den Maurern noch einen Stundenlohn von 2,50 RM zahlen, waren es am Ende 1.000.000.000 RM. Zum Glück blieb es wenigstens bei einer sechzigminütigen Stunde. Der Lohn der Kirchgänger ist das Erlebnis eines beeindruckend feierlichen Raumbildes, das man im Rom der frühen Christenheit nicht überzeugender hätte gestalten können. 12 schlanke Säulen tragen die Wände des Mittelschiffs wie die 12 Apostel als Stützen den Aufbau der christlichen Gemeinschaft trugen. Harmonisch proportionierte Klarheit ohne allzu viele dekorative Wucherungen machen die Kirche heute noch besuchenswert, auch wenn eine Bombendetonation im 2. Weltkrieg den Austausch des maroden Tonnengewölbes durch eine flache Holzdecke nötig machte.
Ob der schöne Bau auch tatsächlich Hafen- und Industriearbeiter nebst Matrosen und Kapitänen von den sonst so gern frequentierten Zielen abgelenkt hat, ist nicht überliefert.
Zu gönnen wäre es ihm und ihnen.
PS: die große Harmonie des Raumbildes ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie das Ergebnis der Zusammenarbeit von Frankfurtern und Offenbachern ist! Die Architekten, die Brüder Hans und Christoph Rummel, stammten aus Frankfurt und das Bauunternehmen Gebrüder Ermold aus Offenbach.