Hingeguckt #009 – Bier ja, Hanftee nein.
Vergleicht man die beiden Fotos der Frankfurter Kannengießergasse, kommt man nicht umhin, gewisse Unterschiede festzustellen. Der Gasse, in der einst Frankfurts blühendes Zinngießerhandwerk seiner Tätigkeit nachging und dieser kurzen Gasse zwischen Dom und Fahrgasse zu ihrem Namen verhalf, ließen die Bomben des Zweiten Weltkriegs nichts außer eben diesem Namen. Der Wieder- oder besser Neuaufbau in den Fünfzigerjahren ersetzte ein malerisches Erscheinungsbild durch Wohnbauten unbestimmten Stils, aber mit deutlich gestiegener Wohnqualität. Bei dieser Gelegenheit wurde die Gasse auch gleich noch „entluthert“, denn nichts erinnert heute an das „Lutherhaus“ am Eingang der Gasse. Die alte Ansichtskarte, die vor etwa 1913 entstanden sein muss, weist noch ausdrücklich auf das Lutherhaus hin, zeigt sogar dessen Porträt und gibt sich damit als nicht untypisches Produkt des Luther- bzw. Reformationsmerchandisings zu erkennen. Wer nun glaubt, das Haus habe einst Luther beherbergt und sonst in irgendeiner Weise mit ihm zu tun, der wird wohl schon angesichts des Baujahrs dieses für den damaligen Zeitgeschmack altmodisch wirkenden Baus stutzig: 1576. Da hatte Martin Luther bereits schon seit geraumer Zeit seine letzte Tasse Hanftee getrunken. Dass der verschieferte Fachwerkbau mit dem Reformator aus Thüringen in Verbindung gebracht wurde, lag an einer Luther-Büste, die der Bauherr schon 1577 an einem dem Dom zugewandten Kragstein hatte anbringen lassen. Dieser Büste beigefügt war ein Spruchband mit dem Worten „in silentio et spe erit fortitudo vestra“ aus dem Buch Jesaja. Adressaten dieses Zitats, das in etwa „im Schweigen und Hoffen wird eure Stärke sein“ bedeutet, werden wohl die Stiftsherren des Bartholomäusdoms gewesen sein, zumal die Büste genau in dessen Richtung blickt. Hatte sich da ein protestantischer Bürger über die weihräuchernde Nachbarschaft geärgert? Man weiß es nicht, jedenfalls ist diese Büste der einzige Bezug zu Luther, denn als sich Luther 1521 auf dem Weg zum berühmten Reichstag nach Worms in Frankfurt aufhielt, logiert er im Gasthaus zum Strauss, das unweit der heutigen Bethmann Bank stand. Hier ließ er es sich vor seinem mutigen Auftritt vor dem Kaiser und den Mächtigen des Reiches bei Lautenspiel und süßem Malvasier-Wein noch einmal richtig gutgehen. Luthers Verhältnis zu den Frankfurtern war, sagen wir es einmal vorsichtig, nicht von innigster Zuneigung geprägt. Ihn ärgerte sicher, dass die beliebten Prediger und die Bürger der Stadt offenkundig mehr mit der reformatorischen Richtung des Schweizers Zwingli sympathisierten. Nach Meinung eines zeitgenössischen Beobachters tendierten die Frankfurter zur „zwinglianischen oppinion und derselbigen secten“. Luther dazu: „ich habe die Hoffnung meines Evangeliums nicht auf Euer Frankfurt gesetzt“. Und als Vorläufer einer kapitalismuskritischen Attac-Bewegung war ihm die Art, wie die Reichsstädter ihr Geld verdienten, vorsichtig ausgedrückt, verdächtig. „Franckfurt ist das sylber und gollt loch, da durch aus deutschem land fleusst, was nur quillet und wechst, gemuntzt oder geschlagen wird bey uns“, heißt es bei ihm und war nicht bewundernd gemeint. Da wirkt die Nutzung des Nachkriegsbaus anstelle des „Lutherecks“ für ein Lokal in dem Bier ausgeschenkt wird, das ausgerechnet nach einem katholischen Mönchsorden, den Paulanern, benannt ist, wie eine späte Retourkutsche. Damit wenigstens noch ein Hauch des einstigen lutherischen Geistes gewahrt bleibt, haben wir der zeitgenössischen Ansicht der Kannengießergasse einen modernisierten Luther beigegeben.
PS: die historische Ansicht aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehört zu unserer umfangreichen Sammlung von Ansichtskarten aus 14 Jahrzehnten. Sollten Sie zuhause beim Aufräumen, was in Corona-Zeiten zu einer höchst beliebten Beschäftigung avanciert ist, auf verstaubte Karten stoßen, denken sie auf dem Weg zur Papiertonne auch daran, dass diese Karten in unserer Sammlung einen würdigeren Bestimmungsort finden könnten.
Bildquelle: ® Thomas Huth