Hingeguckt #012 – „Zeigt her eure Schuhe …“
Noch erwärmt den gelernten Mitteleuropäer der ein oder andere sommerliche Sonnenstrahl zwischen den Regengüssen und dennoch steht der Winter schon unbarmherzig in den Startlöchern. So erinnert ein alter Brauch im ansonsten unverbrauchten Ruhrgebiet vom fernen Herannahen der dunklen Jahreszeit. Pünktlich zur Sommersonnwende, wenn der letzte Strahl der untergehenden Sonne den Horizont in hitzigem Rot erglühen lässt, ist es so weit. Essens unverheiratete Burschen ungeraden Jahrgangs ziehen durch die laue Sommernacht, um sich am großen Kultkreis im Herzen der Ruhrmetropole ihrer Schuhe zu entledigen. Nun gilt es äußerste Konzentration walten zu lassen, müssen die Schuhpaare doch synchron mit dem letzten Sonnenstrahl auf den Kultkreis geworfen werden, damit sie sich dort dergestalt verhaken, dass sie es bis zum Dezember in Wind und Wetter dort oben aushalten. Nur auf diese Weise kann man sicher sein, dass die Schuhe bis zum nächsten Nikolausfest von ihren olfaktorischen Gebrauchsspuren befreit sein werden, womit sie sich zum würdigen Gefäß für die Gaben der Nikolausnacht qualifiziert haben. Da hängen sie nun, die Schuhpaare, früher übrigens ausschließlich Bergmannsstiefel, und harren des 6. Dezember in Erwartung ihrer Füllung durch den heiligen Mann aus Myra.
Mit Hoffen und Bangen ziehen dann die hoffentlich immer noch ledigen Burschen am Nikolausmorgen durch das aufmunternde Spalier der unverheirateten Mädchen geraden Jahrgangs vor dem ersten Strahl der Sonne zum heiligen Kreis. Sind die Schuhe prall gefüllt mit Tankgutscheinen, Kinderschokolade, Bitcoins und Netflix-Abos, ist der junge Mann immer noch jung aber endlich für alle erkennbar auch ein Mann. Bleiben die Schuhe leer, ist einfach nichts drin.