Hingeguckt #018 – Castelli in aria
Große Ideen sind in der heutigen Zeit rar. Aber hier hatte einer eine große Idee – man kann ihn nicht genug loben! Selten sieht man einen derart zugleich aufrüttelnden wie ästhetisch überzeugenden Protest gegen die allgemeine Wohnungsnot. Ein Treppenturm der nicht vorhandenen Wohnraum erschließt – ein großartiges Bild, das freilich viel tiefere Sinnschichten berührt als nur die Frage nach der ausreichenden Versorgung mit Wohnraum. Ist es nicht vielmehr auch eine Metapher für unsere immer häufiger zu beobachtende Unentschlossenheit? Wir wollen aber können nicht? Manifestiert sich hier das typische Pendeln der deutschen Seele zwischen dem rationalen, Perfektion anstrebenden Planer und dem romantischen Tagträumer, dem es eine Gewissheit ist, dass alles menschliche Streben letztlich zum Scheitern verurteilt ist und jedes große Werk von Anfang an auch dessen Ruine in sich trägt? Damit gelingt es dem Schöpfer des Werks sogar einen Bogen zu Goethe zu spannen, der in seinem Faust sagen lässt: „Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust …“ Es kann kein Zufall sein, dass auch bei Goethe vom „Wohnen“ die Rede ist!
Selten hat eine Großplastik intensiver zur inhaltlichen und emotionalen Auseinandersetzung aufgefordert als dieses Monument in der ansonsten künstlerisch eher unbelasteten Friedberger Landstraße.
Ein Vergleich mit Beispielen aus der langen Frankfurter Treppenturmtradition erhellt das Besondere des zeitgenössischen Baus noch mehr. Drei Treppentürme aus dem alten Frankfurt seien als Beispiele angeführt. Das gibt es zum Beispiel den Treppenturm der einst zum Anwesen „Zum Prinzen Carl“, heute Sitz des Caritasverbands, in der Alten Mainzer Gasse gehörte. Das zugehörige Viertel war im Mittelalter ein beliebtes Wohnquartier der Reichen und in manchen Fällen vielleicht sogar Schönen. Schön war und ist auf jeden Fall der Treppenturm aus der Zeit der Renaissance. Er diente früher nicht nur der Erschließung der Geschosse sondern auch als architektonisches Scharnier im Winkel zweier Gebäudeflügel. Was ist sein Job heute? Dastehen und erinnern.
Der schönste unter Frankfurts alten Treppentürme ist aber ohne Zweifel der das Haus Alt-Limpurg vom Hof des Römers bedient. Anmutig geöffnet schwingt er sich, beschirmt von einer schicken Glockenhaube mit feinem Renaissancedekor, in bescheidene Höhe. Die vornehme Bürgergesellschaft muss wohl recht eitel gewesen sein, kam es ihr beim Bau dieses Treppenturms doch offenkundig darauf an, bei ihrem „Auftritt“ gesehen zu werden. Im Winter zahlte man dann den Preis der Schönheit in einer Währung namens Blasentee.
Und zuletzt sei noch der Treppenturm des Goldenen Lämmchens in der neuen Altstadt genannt. Er macht sich gut im malerischen Hof und ist ein schönes Beispiel für „So-hätte-es-gewesen-sein-können-Architektur“. Ein Treppenturm an dieser Stelle ist auf keiner Abbildung aus dem 19. Jahrhundert vorhanden. Gut, dass sich Luftschlösser, „castelli in aria“ wie sie die Barockzeit gerne nannte, pardon Lufttürme, manchmal materialisieren lassen.