Hingeguckt #019 – Semana Santa am Main

Von Andalusien und Sizilien kennt man die aufwendigen Inszenierungen des Leidens Christi in der Karwoche. Mit feierlichem Ernst und seltsamen Ku-Klux-Klan ähnlichen Kopfverhüllungen schleppen die Männer der Bruderschaften und Kirchengemeinden oft tonnenschwere Figurengruppen durch die engen Gassen der alten Städte. Eigens dafür komponierte Trauermärsche verstärken die Wirkung auf die Gemüter der Prozessionsteilnehmer und Zuschauer. Undenkbar im aufgeklärt kühlen Deutschland? Mitnichten. Auch bei uns gab es einst in vielen Städten solche Spektakel. In Frankfurt zum Beispiel führte man bis zur Reformation ein mehrtägiges Passionsspiel mit vielen hundert Darstellern auf den Gassen und Plätzen auf. Eine dazugehörige „Dirigierrolle“ gab genaue Anweisungen, wie die einzelnen Episoden des Leidens und Todes Christi in Szene zu setzen seien. Diese Rolle mit ihren über vier Metern Länge ist noch heute erhalten und gilt mit ihrer Entstehungszeit im frühen 14. Jahrhundert als älteste erhaltene „Regieanweisung“ des deutschen Sprachraums.

Möchte man in unseren Tagen einem solchen Spektakel beiwohnen, muss man nur die dichten Wälder des Spessarts durchqueren und kann in Lohr am Main einer der letzten Karfreitagsprozessionen Deutschlands beiwohnen. Seit mindestens 1656 zieht dort eine Prozession durch die Gassen zwischen Pfarrkirche Sankt Michael und dem ehemaligen Kurmainzer Amtsschloss. Vermutlich hatten die glaubenseifrigen Kapuziner nach den verheerenden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges die Prozession zur Befeuerung des Glaubenseifers wiederbelebt. Dass diese Prozession bis heute überdauert hat, verdankt sie sicher der Tatsache, dass nicht die Kirche Träger dieses Ereignisses ist, sondern die Zünfte und ihre heutigen Nachfolger, die Innungen. Besonders schwierig war die Zeit der Aufklärung und der Säkularisation um 1800. Immer wieder gab es Verbote durch die weltliche und bisweilen sogar durch die geistliche Obrigkeit, aber die Lohrer haben sich nicht beirren lassen und ziehen nach wie vor am Karfreitagmorgen mit 13 lebensgroßen, bekleideten  Figuren durch ihre schöne alte Stadt. Interessant ist, wer was trägt. Die „Verspottung Christi“ ruht unter anderem auf den Schultern der medizinischen Berufe, für die Geißelung Christi sind Raumgestalter und Fliesenleger zuständig und, das ist allerdings naheliegend, die Szene in der Jesus seiner Kleider beraubt wird stemmen Schneider und Textilhändler. Seit 1960 wird während der Prozession geschwiegen und das Einzige, was man in der ansonsten fast gespenstisch stillen Stadt hört, sind Trauermärsche und dumpfe Paukenschläge, die den Gehrhythmus takten. Die Gesichter der vielen hundert Zuschauer verraten, dass diese Inszenierung ihre Wirkung auf die Gemüter nicht verfehlt. Aber bei aller Trauer gibt der stille Zug auch Hoffnung. Dafür ist, es könnte sinniger nicht sein, die Feuerwehr zuständig. Sie präsentiert den Propheten Jonas, den der Walfisch wieder ausgespien hat, als Symbol für die Auferstehung. Der düstere Karfreitag ist zum Glück nicht das Ende der Geschichte. Frohe Ostern!