Vor einigen Jahren hatte ein Autor im ZEIT-Magazin die kühne Behauptung aufgestellt, Rothenburg sei die schönste japanische Kleinstadt. Nicht weit hergeholt, denn Rothenburg ist eine schöne Stadt und wenn an manchen Tagen in Corona entwarnten Zeiten die Armada von Transferbussen ihre japanische Fracht vor den Stadtmauern ablädt, ist die alte Reichsstadt für ein paar Stunden scheinbar fest in fernöstlicher Hand. Nippons Töchter und Söhne bestaunen dann Schneeballen, Kuckucksuhren, mittelalterliche Folterutensilien, Christbaumkugeln und Fachwerkidyllen. Viel Fremdes strömt hier auf die Japaner ein: Amerikaner schlendern durch die Schmiedgasse, Italiener blockieren die besten Plätze in den Eisdielen und Holländer hasten auf der Suche nach dem irgendwo geparkten rollenden Zuhause durch die altmodisch gepflasterten Gassen. Selbst Deutsche sollen mitunter schon in Rothenburgs Mittelalterkulisse gesichtet worden sein, obwohl denen die Stadt die altfränkische Schöne nicht mediterran, thailändisch oder ballermannig genug ist. Die längst globalisierte Freizeitindustrie hat die wohlerhaltene mittelfränkische Reichsstadt als „typically german“ ausgeguckt, entsprechend etikettiert und vermarktet. So ist das Stadtbild „ob der Tauber“ zum einem der meistfotografierten Deutschlands geworden, hilft das berühmte „Plönlein“ vielleicht ein Tapetenriss in Osaka zu überdecken und der „Meistertrunk“ stimmt motivisch auf feuchtfröhliche Stunden in einer Hausbar in Oklahoma ein.

Feuilletonisten und Kulturpuristen mag das stören, aber welche Alternative hat eine Stadt wie Rothenburg, um die Erhaltung und Pflege des einmaligen historischen und kunstgeschichtlichen Erbes zu finanzieren? Eignet sich ein türmereiches Stadtbild vielleicht als putziger Hintergrund für Industriebetriebe und Gewerbeparks? Wäre Hightech eine echte Alternative zu Hotelfach? Mikrochips statt Riesenschneeballen? – Rothenburg bleibt wohl nur die Wahl zwischen Tourismus und Fremdenverkehr, will die Stadt mit ihren strengen Erhaltungssatzungen der Selbstverpflichtung weiterhin gerecht werden, ein einmaliges Ensemble des späten Mittelalters zu sein. Und das nutzt sich durch Besucherblicke zum Glück nicht ab!

Wer in den frühen Abendstunden durch Schmiedgasse und Herrengasse zum Burggarten bummelt oder im stillen November die Stadt besucht, dem gelingt selbst in der heutigen Zeit des Massentourismus noch ein sehr individueller Ausflug in die Welt spätmittelalterlicher Stadtbaukunst und einstiger reichstädtischer Urbanität. Mit etwas Gespür für Strukturen lassen sich von der Rothenburg ausgehend schnell die Wachstumsringe der Stadt erkennen.

Die Achse der breiten Herrschaft ist die breite Herrengasse, deren behäbig breite Häuser noch immer stolz vom Anspruch ihrer einstigen Bauherren, den Patriziern, künden. Enger dagegen sind die Viertel bebaut, die von Handwerkern, Tagelöhnern und den sogenannten einfachen Leuten bewohnt wurden. Und gerade dort führte der Zwang zur optimalen Ausnutzung des Raumes oft zu den malerischsten Lösungen, „Plönlein“ und „Alte Schmiede“ sind die wohl meistabgebildeten Beispiele. Die Höhepunkte im Stadtbild finden sich naturgemäß da, wo die selbstbewusste Bürgerschaft der Stadtrepublik besonders gefallen und repräsentieren wollte. So ist das Rathaus am eher bescheiden dimensionierten Marktplatz zu einem Palast geraten, der mit den Mitteln der Baukunst selbst fürstlichen Gästen eine Belehrung über Wirtschaftskraft und Bedeutung der Reichsstadt erteilte. Nicht minder trumpft die Stadt mit ihrem zentralen Gotteshaus, der Jakobskirche, auf. All das, einfache Behausungen, die Kirchen und Klöster, das palastähnliche Rathaus, die Patriziersitze schützte eine türmereiche Stadtwehr. Heute hilft sie, Rothenburgs historische Gestalt vor der Einwegarchitektur der Gegenwart abzuschirmen.